»Erwarte mich morgen nach Sonnenuntergang am Fuße der Wasserleitung, zwischen dem neunten und zehnten Bogen. Bring eine eiserne Hacke, einen Helm ohne Federbusch
und ein paar Ledersandalen mit!«
Der Aquädukt, von dem er sprach, ein bedeutendes Bauwerk, das von den Römern später noch vergrößert wurde, lief schräg über die ganze Landenge hin. Auf drei übereinandergebauten mächtigen Bogenreihen, mit Strebepfeilern an den Basen und Löwenköpfen an den Scheiteln, führte er bis zum westlichen Teil der Akropolis hin und senkte sich dann zur Stadt hinab, um die Zisternen von Megara mit einer stromähnlichen Wassermenge zu versehen.
Spendius traf Matho zur verabredeten Stunde. Er knüpfte alsbald eine Art Harpune an
das Ende eines Seiles und ließ dies rasch wie eine Schleuder schwirren. Der eiserne Haken blieb an der Mauer haften, und nun begannen sie, hintereinander emporzuklimmen.
Als sie das erste Geschoß erreicht hatten, fiel der Haken bei jedem Wurfe wieder zurück. Bis sie eine geeignete Stelle entdeckten, mußten sie um die Pfeiler herum auf dem Sims gehen, den sie bei jeder höheren Bogenreihe immer schmaler fanden. Nach und nach dehnte sich das Seil. Mehrere Male wäre es beinahe gerissen.
Endlich waren sie auf der obersten Plattform. Spendius bückte sich von Zeit zu Zeit, um deu Steinbelag mit der Hand zu betasten.
»Hier geht’s!« sagte er. »Fangen wir hier an!« Und indem sie sich beide gegen den Spieß stemmten, den Matho mitgebracht hatte, gelang es ihnen, eine der Steinplatten zu lockern.
In der Ferne bemerkten sie einen Trupp von Reitern, die auf zügellosen Pferden dahingaloppierten. Ihre goldenen Armreifen tanzten über den undeutlichen Falten ihrer Mäntel. Voran ritt ein Mann mit einer Krone von Straußenfedern auf dem Kopf, in jeder Hand eine Lanze.
»Naravas!« rief Matho.
»Was kümmert uns der?« entgegnete Spendius und sprang in das Loch, das durch das
Aufheben der Platte entstanden war.
Seiner Weisung gemäß versuchte auch Matho einen der Steinblöcke zu lockern. Aber er
hatte keine Ellbogenfreiheit.
»Es wird auch so gehen!« meinte Spendius. »Geh voran!«
Damit wagten sie sich in das Innere der Leitung.
Das Wasser ging ihnen bis an den Bauch. Bald aber gerieten sie ins Schwanken und mußten schwimmen. Dabei stießen sie mit den Händen und Füßen gegen die Wände des
allzu engen Kanals, in dem das Wasser fast unmittelbar unter den Deckplatten hinfloß. Sie rissen sich das Gesicht auf. Die Strömung trug sie fort… . Eine Luft, schwerer als im Grabe, lastete auf ihrer Brust. Die Arme vor den Kopf haltend, die Knie geschlossen, sich so lang streckend, wie sie irgend konnten, schossen sie pfeilschnell durch die Dunkelheit
dahin, halb erstickt, röchelnd und dem Tode nahe. Plötzlich ward es stockfinster vor ihnen, und die Strömung wurde reißend. Die beiden Männer gerieten in das Gefälle… .
Als sie wieder an die Oberfläche der Flut kamen, ließen sie sich einige Minuten treiben und sogen mit Wohlbehagen die Luft ein. Bogenreihen, eine hinter der andern, öffneten sich in der Mitte mächtiger Mauern, die den Raum in einzelne Becken zerlegten. Alle waren gefüllt, und das Wasser in den Zisternen bildete eine einzige Fläche. Durch die Luftlöcher in den Deckenwölbungen fiel bleicher Schein, der Lichtscheiben auf die Flut warf. Der Schatten ringsum, der sich nach den Wänden zu verdichtete, ließ diese ins unbestimmte zurücktreten. Das geringste Geräusch erweckte lauten Widerhall.
Spendius und Matho begannen abermals zu schwimmen. Durch die Bogenöffnungen
gelangten sie von einem Becken immer in das nächste. Auf beiden Seiten lief noch je eine parallele Reihe kleinerer Becken hin. Die Schwimmer verirrten sich, kehrten um und kamen an dieselbe Stelle zurück. Endlich fühlten sie festen Boden unter den Füßen.
Es war das Pflaster der Galerie, die um die Zisternen herumlief.
Mit großer Vorsicht weiterschreitend, tasteten sie das Mauerwerk ab, um einen Ausgang zu finden. Aber ihre Füße glitten ab, und sie stürzten wieder in das tiefe Becken. Sie kletterten von neuem empor und fielen abermals zurück. Eine furchtbare Ermüdung überkam sie, als ob ihre Glieder sich beim Schwimmen im Wasser aufgelöst hätten. Die Augen fielen ihnen zu. Sie kämpften mit dem Tode.
Da stieß Spendius mit der Hand gegen die Stäbe eines Gitters. Beide rüttelten daran. Es gab nach, und sie befanden sich auf den Stufen einer Treppe. Oben kamen sie vor eine verschlossene Bronzetür. Mit der Spitze eines Dolches schoben sie den Riegel zurück, der sich nur von außen öffnen ließ, und plötzlich umfing sie die frische freie Luft.
Die Nacht war still. Der Himmel verlor sich in unendlicher Tiefe. Hier und da ragten Baumgruppen über die langen Mauerlinien hinweg. Die Stadt lag im Schlummer. Die Wachtfeuer der Vorposten glänzten wie herabgefallene Sterne.
Spendius, der drei Jahre im Kerker verbracht hatte, kannte die Stadtviertel nur ungenau.
Matho meinte, um zum Palaste Hamilkars zu gelangen, müsse man sich nach links wenden und die Straße der Mappalier überschreiten.
»Nein!« sagte Spendius. »Führe mich zum Tempel der Tanit!«
Matho wollte widersprechen.
»Denke daran!« unterbrach ihn der ehemalige Sklave, indem er den Arm erhob und nach dem Monde wies, der am Himmel glänzte.
Da wandte sich Matho schweigend gegen die Akropolis.
Sie schlichen sich an den Kaktushecken hin, die die Wege einfaßten. Das Wasser rann
von ihren Leibern in den Staub. Ihre feuchten Sandalen verursachten kein Geräusch.
Spendius suchte mit seinen Augen, die wie Fackeln glühten, bei jedem Schritt die Gebüsche ab. Er ging hinter Matho, die Hände an den beiden Dolchen, die er unter den Armen trug und die ihm, an einem Lederriemen befestigt, von den Schultern herabhingen.
Kapitel 5
Tanit
Als sie die Gärten durchschritten hatten, sahen sie sich durch die Mauer zwischen Megara und der Altstadt am Weitergehn gehindert. Da entdeckten sie einen schmalen Durchlaß in dem gewaltigen Mauerwerk und kamen hindurch.
Der Boden senkte sich und bildete eine große Mulde. Sie schritten über einen freien Platz.
»Höre mich einmal an,« sagte Spendius, »und vor allem fürchte nichts!… Ich werde mein Versprechen erfüllen!«